Wieder erklang dieses unrhythmische Klopfen. Misstrauisch, mit kurzen, zögernden Schritten verließ Gisela den Tresen. Ihre Wangen unter den blondierten Haaren verloren an Farbe bei dem Gedanken an die nächtlichen Überfälle, die das Vier­tel zuletzt heimgesucht hatten. Oder sollte vielleicht ...? Wie aufgescheucht aus der Umfriedung eines nicht mehr jungen Lebens begann ihr Herz zu rasen. Hinter dem üppigen, noch immer festen Busen spürte sie ein schmerzhaftes Pochen. Sollte tatsächlich Fernando? Oh Gott! Fernando war kein gewöhnlicher Mann. Gisela nannte ihn den Todesengel ihrer besten Jahre. Unerwartet war er damals in ihr Leben getreten, wie aus heiterem Himmel, die inneren und äußeren Seiten ihrer Fraulichkeit im Sturm erobernd. Viele Jahre hatte das athletische Kraftpaket dieses biopsychische Terrain besetzt gehalten und alles, was Giselas Leben bis dahin ausgemacht hat, wie ein Bulldozer zerstört. Seit Tagen vergiftete eine Besuchsankündigung des schönen Fernando ihr eher karges, aber durchaus zufriedenes Leben.

  

   Das wiederholte Klopfen ließ die Eingangstür beben. Gisela zupfte ihre grüne, einfache Bluse zurecht, sodass der Stoff auf dem Speck der Wechseljahre weniger spannte. Ihre Augen visierten die Tür an, über der sie für eine Zehntelsekunde Halt fanden an einem Bild, das den morbiden Charme einer vom Kolonialstil geprägten Altstadt zeigte: Fernandos Heimat. Gisela öffnete die Tür nur einen Spaltbreit. Es war nicht Fer­nando, es war Eve. Das dumme Kind saß zusam-mengesunken auf der Stufe zur Tür. Es wirkte apathisch, leblos fast. Wieder einmal schien es, als wollte eine verängstigte Seele einem ausgemergelten Körper entfliehen. Gisela fasste die Gefallene bei den Achseln, zog sie herein in die Gaststube, bettete sie auf eine alte Hundedecke.

  

   Während sie daran dachte, den Notarzt zu rufen, flehte Eve um einen Drink. »Bitte, bitte, nur einen Cuba Libre.«

   »Was ist passiert?«, fragte Gisela, »zu viel Heroin?«

   »Nein!«

   Gisela ahnte etwas: »Zu viel von – Volker?«

   »Ja«, bestätigte das verzweifelte Mädchen, »er hat mir ins Genick geschlagen.« Dann: »Neuerdings verlangt er mehr Geld denn je – für sich allein. Aber ich schaffe es einfach nicht.« Eve begann hemmungslos zu schluchzen.

Gisela wandte sich ab, um den Drink zu bereiten.

  

   Vom Tresen aus beobachtete sie, wie Eve sich mühsam auf­richtete, der Hundedecke zu entfliehen. Kein Wunder, das Textil, halb so dick wie ein Schaffell, war filzig und stank zum Gotterbarmen. Dass die Kleine daran in ihrem Zustand noch Anstoß nahm … Auch Gisela hatte einst auf dieser Decke gelegen, als der kuschelige Bodenbelag vor über 30 Jahren angeschafft worden war, mit nacktem Hintern und Fernando über sich. Eine Erinnerung, die heute widersprüchliche Empfindungen auslöste.


   Damals war Fernando, der mit vollständigem Namen Fernando Meier hieß, nach Hamburg gekommen. Unter-gebracht war er ganz in der Nähe, wo er sich mit einem zweiten Kuba-Flüchtling ein bescheidenes Zimmer hatte teilen müssen. Gisela war damals gerade eingestellt worden als Tresenbedienung in der Havanna-Bar, stundenweise. Eine forsche, begabte Studentin mit dem Ziel, Archäologin zu werden. Glücklich war sie zu jener Zeit aber mit einem anderen gewesen, einem langjährigen Freund, einem lieben, fleißigen Menschen. Umso schrecklicher für ihn, dass er völlig unerwartet aus der gemeinsamen Wohnung vertrieben worden war, von Fernando, mit einer durchgeknallten Gisela an seiner Seite.

   Der Erwartungsfrohe führte die letzte, gleichwohl schon an­gebrochene Flasche Havanna Club an die Lippen und trank den Inhalt bis auf die Hälfte runter. Als er den Feldstecher wie­der vor die Augen hielt, blieb ihm die Luft weg. Nicht Rosa saß neben dem Bootsführer, sondern eine breitschultrige Person. Und wenn ihm der Alkohol keinen Streich spielte, dann trug der die Kleidung eines Polizisten. Instinktiv fasste Merten an den Gürtel seines Sommershorts, wo er das Geld zu ver­wahren pflegte. Verdammt! Er war ja pleite. Er würde dem Mann der Ordnung keine Referenz erweisen können.

   

   Mit zusammengekniffenen Lippen heftete der Aufgeschreck­te seine Augen auf den Uniformierten in dem Boot. Sein Zorn galt Rosa. Wer sonst als das Mädchen hätte ihm dieses Süppchen einbrocken können? Sie war eine Verräterin. Was für ein Schweinekind in diesem Luder doch steckte.

    

   Der nette Herr Merten war wirklich enttäuscht. Denn klar und deutlich, wie vom karibischen Wind über die Düne geweht, hörte er die verklungenen Worte, die er an Rosa ge­richtet hatte: Ehre für den Frommen und den Starken, die es schaffen, eine große Liebe zu einem Geheimnis zu machen, auch den eigenen Eltern gegenüber, der Verwandtschaft und der Polizei. Tausend Dollar hatte Merten dem Kind versprochen, wenn es seine Insel-Erlebnisse für sich behielte. Das Geld würde Merten jetzt dem Polizisten zustecken müssen. Auf einmal kehrte der Druck unter dem Brustbein zurück, durchflimmert von einem Unbehagen, das dem Enttäuschten in dieser Heftigkeit fremd war.

    

   Schon hatte das schlanke, von einem starken Heckmotor an­getriebene Holzboot das flache Wasser vor der Insel erreicht. Piet sprang hinaus, zog es an der Bugspitze auf den Strand, sodass der Polizist trockenen Fußes aussteigen konnte. Noch hatten sie Merten nicht bemerkt. Suchend schauten sie ins Gelände.

   Der Uniformierte fragte: »Wo, zum Teufel, steckt denn der verdammte Kinderficker?«

Während Mertens Puls schmerzhaft in die Höhe schoss, ahnte er dumpf, dass es mit 1000 Dollar nicht getan sein würde. Langsam, sich hinter der Düne wegrobbend, dann in gebückter Haltung das Weite suchend, so steuerte der Verängstigte jene Grube an, in der schon Rosa Schutz gesucht hatte.

   

   Geduckt saß er im Sand und sehnte sein schönes Deutsch­land herbei, seine Wohnung, sein geräumiges Büro und all die langweiligen Kollegen, die täglich zur Arbeit kamen, sich auf unnütze Weise nützlich zu machen. Eine Einstellung, die im-merhin etwas Geborgenheit versprach. Das nützte in dieser Stunde allerdings nichts. Oh verdammt, welcher Teufel hatte ihn nur in diesen gottverlassenen Teil des Erdballs gelenkt? Wo war Gott? Er, Merten, war doch getauft worden. Müsste der Herr im Himmel nicht seine Hand über ihn halten? Warum schickte er keinen Sandsturm, den Polizisten ins Meer zu fegen? Wut stieg in Merten auf. Wenn der Herrgott seine Pflichten vernachlässigte, dann, verdammt, müsste eben der Herr der Hölle ran, so schoss es ihm durch den Kopf. Auf einmal ebbte der innere Sturm ab. Dumpf begann Merten darüber zu grübeln, wie er im Rücken des Gesetzes das Boot erreichen könnte. Doch fürchtete er, beim Verlassen des Verstecks beobachtet zu werden.

   

   Bemerkt wurde er dennoch. Denn nichts hinterlässt auffälli­gere Spuren im Sand als die Schwere der Angst.

   

        »Hierher!«, war Piet zu hören.

   

Schon waren die Suchenden nicht mehr als fünf Meter ent­fernt. Deutlich konnte Merten ihr Schnaufen vernehmen und das Knacken von trockenen Ästen unter ihren Füßen. Plötzlich war Stille. Merten horchte in den Wind. Bäuchlings lag er im Sand, wagte einen Blick über zwei niedrige Sträucher hinweg. Da tauchten zwei Turnschuhe auf. Ihre Spitzen zeigten geradewegs in seine Richtung. Dann bemerkte er eine gezückte Pistole über sich. Ein Anblick, bei dem er es für geboten hielt aufzugeben. Wie in Trance, so verließ Merten die Senke. Mit der Hand schlug er den Sand aus der Kleidung.

   »Hallo, da bist du ja endlich«, sagte er mit Kreide in der Stimme zu Piet, »ich habe auf dich gewartet.«

Während der Bootsführer den Kopf hob, hob Merten beschwichtigend die Arme. Dann, ganz vorsichtig, zog er ein Leinentuch hervor, um sich den Schweiß und den Staub aus dem Gesicht zu wischen. Unaufgeregt, freundlich, entgegenkommend, so sprach Merten auch den Polizisten an: »Nanu, was macht die Ordnungsmacht auf dieser einsamen Insel?«

   

   Der Uniformierte blieb förmlich: »Es liegt eine Anzeige ge­gen Sie vor: Entführung, Vergewaltigung, Körperverletzung, Unzucht mit einer Minderjährigen, die 14 Jahre alt sein soll. Ich muss Sie bitten, mit mir zu kommen.«

Textproben aus „Der schwarze Duft“.

Ein Getränk für alle Fälle


Cuba Libre

Die Perspektive des Teufels


Der nette Herr Merten