Was ist Satire?


Versuch einer „handgreiflichen“ Definition, nicht nur für den Hausgebrauch.


In der medialen Wahrnehmung begegnet uns die Satire zumeist dann, wenn Menschen oder Gruppen des öffentlichen Lebens sich auf den Schlips getreten fühlen. „Beleidigung!“, rufen sie, bemühen vielleicht das Recht, fordern Schadenersatz, mindestens aber eine Entschuldigung. Solidarität bekommen sie von Gesinnungsfreunden oder solchen Zeitgenossen, die von der Situation in irgendeiner Form profitieren. Ihnen gegenüber stehen der Satiriker und jene, die die Meinung des Satirikers teilen. Je nach Ausmaß der jeweiligen Teilhabe wird sich heimlich oder unverstellt gefreut oder empört. Ein Disput, der den Satirebegriff selbst betrifft. Satire darf alles, sagen die einen, Satire muss vor gewissen moralisch-ethischen Grenzen haltmachen, sagen die anderen. Kein Wunder also, dass die Satire ihren Hauptwohnsitz in der Politik hat.


Schließlich stellt sich die Frage: Was ist eigentlich Satire? Wenn Satire auch „viel“ darf, so ist die Nicht-Satire – also simple, von Haltung gesteuerte Beschreibung, Verunglimpfung, Herabsetzung oder Lüge – ohne Wenn und Aber an die Rechtsprechung gebunden. Die Beurteilung, ob es sich bei dem inkriminierten Text um Satire handelt, entscheidet deswegen nicht zuletzt, wie im realen Leben mit einer „Beleidigung“ oder dergleichen verfahren oder auch nicht verfahren wird.


Beim Hin und Her gegenseitiger Bezichtigungen entsteht in der Regel ein argumentatives, lautstarkes Übergewicht auf Seiten der Empörten. Die von der Satire aufs Korn genommenen Zeitgenossen streben nach Genugtuung, zuallererst indem sie den satirischen Charakter in Frage stellen, denn Satire ist Kunst und Kunst ist durch das Grundgesetz geschützt. Der Satiriker zieht sich in der Folge seiner Attacke erst einmal zurück und beharrt unter dem Beifall seiner Befürworter auf den satirischen Gehalt. Die einen strampeln sich in der Regel ab, die anderen genießen aus der Deckung heraus die Wirkung. Dieser Gegensatz ist es, der mich nach tauglichen, exemplarischen Kriterien zur Definition, nachgeordnet zur Beurteilung einer Satire suchen lässt. Praktisch scheint es oft unmöglich, sich über Satire zu verständigen. Der Begriff ist im Volksmaul zum Allgemeingut geworden. Sofern eine Bosheit nur bunt und schrill und absurd genug daherkommt, wird sie zur Satire erklärt, schon allein um unter den Schirm der Kunstfreiheit zu schlüpfen.


Vorerst sei noch darauf verwiesen, dass der Gegenstand der Satire letztendlich stets menschliche Haltungen sind. Diese äußern sich im Tun oder Unterlassen der Menschen im einzelnen wie in Gruppen oder zeigen sich in Ergebnissen und Manifestationen menschlichen Tuns in sozialer, kultureller, gesellschaftlicher Weise unterschiedlicher Reichweite.


Als konstituierend für eine Satire betrachte ich:


1)einen kommunikativer Prozess,

2)eine Haltung des Angriffs;

3)Satire ist eine eigenständige Kunstform, auch wenn sie andere, sich formal definierende Kunstformen überformt;

4)Satire ist zielgerichtet, nachvollziehbar und rational;

5)eine indirekte Form, die eine spezielle Denkleistung des Rezipienten verlangt.


Diese Kriterien sollten hinreichen, eine Satire zu verifizieren oder zu falsifizieren. Fehlt einer dieser Punkte, ist Vorsicht geboten. Außerdem sind satirische Stilmittel eben nicht auf Satire beschränkt. Dies führt bei Texten und anderen Kunstwerken zu Überschneidungen und zu einer Vielzahl von Interpretationsmöglichkeiten.


Wie die Erfahrung zeigt, finden die Beurteilungen der streitenden Parteien so gut wie nie zueinander, weder im Disput noch vor Gericht. Käme es zum Äußersten, wäre es wichtig, auf klare Merkmale verweisen zu können. Leider wird ein Gerichtsurteil am Ende wohl dennoch wenig konturiert sein, sondern als diskussionswürdige „Einschätzung“ das Recht der Welt erblicken; zu vielfältig bleiben Interpretationsmöglichkeiten im schlammigen Aquarium der Empfindungen und Begrifflichkeiten.


Zu 1 = Ein kommunikativer Prozess


Der klassische kommunikative Prozesse besteht im Aussenden eines Signals an einen Empfänger. Allerdings macht dies nur einen Sinn, wenn das Signal den Empfänger erreicht. Das Aussenden eines Signals für sich ist also kein kommunikativer Prozess. (PS für den Dichter: keine Manuskripte im Nachtschrank versauern lassen.) Gleiches gilt für die Massenkommunikation. Fernsehnachrichten, die ohne Zuhörer bleiben, rauschen zwar als spezielle Signale durch die Welt, sind aber noch keine Kommunikation. Erst der Konsum der Nachricht/Information verleiht ihr den Charakter einer Kommunikation.


So gesehen ist ein Satiriker eine Nachrichten-/Informationsquelle, die eine Botschaft aussendet. Hierfür nutzt er einen für ihn angemessenen und erfolgversprechenden Verbreitungsweg: Zeitungen/Zeitschriften, Bücher, Rundfunk, Plakate, bildende Künste und mehr.


Diese Aufzählung wirft ein Licht auf den Charakter der Kommunikation. Die wird nämlich kaum face to face stattfinden, sonder als Massenkommunikation auftreten. Eine Satire erfordert ein bisschen mehr als einen Aufschrei, eine spontane Empörung, die mündliche Darlegung oder Niederschrift einer gegenteiligen Meinung. Selbstverständlich könnte ein Herr X einen Herrn Y eine Mail schicken oder ihn antelefonieren. Allerdings würde sich Herr X wohl kaum die Mühe machen, eine Satire zu konzipieren, wenn er daraus nicht auch eine Mehrwert für sich und damit im günstigsten Fall auch für seine Sache (Idee, Ideologie, Konkurrenz) generieren könnte. Daraus ergibt sich eine weitere kommunikative Eigenart der Satire: Sie ist weniger an den Gegner gerichtet, sondern an die eigenen Geistesbrüder und diejenigen, von denen er hofft, sie zu seinen Geistesbrüdern machen zu können, die mehr oder weniger Unentschiedenen.


Zu 2 =  Eine Haltung des Angriffs einnehmen.


Ein Satiriker beschreibt seine Lebenswelt nicht einfach. Für ihn ist die Welt, in der er lebt, in Bewegung; er urteilt über sie, er kritisiert sie. Ausgangspunkt ist die eigene Haltung, die er einer anderslautenden oder gegenteiligen, seiner Beurteilung nach unrichtigen, unmoralischen oder gefährlichen gegenüberstellt. Er ist streitbar, kämpferisch, tendiert zum Parteiischen und ist auf Krawall gebürstet.


Aus diesem Grund gilt: Wo eine Satire auftritt, findet sich ein Opfer, oder: wo ein Satiriker ist, findet ein Angriff statt. Dabei bilden der Attackierende und das Opfer ein Ganzes. Wobei der Satiriker nicht nur Menschen oder Menschengruppen aufs Korn nimmt, sondern ebenso soziale, politische oder kulturelle Hervorbringungen, wie zum Beispiel „Auswüchse“ sozialer Erscheinungen.


Die Attacke eines Satirikers tritt in der Regel mit dem Anspruch auf, etwas besser machen zu können als der Angegriffene oder weil sie einem höheren moralischen, ethischen Ziel dient. Entsprechend erlaubt sie sich eine im Alltag inakzeptable Wucht und zielt schon mal unter die Gürtellinie. Sie demonstriert Überlegenheit, spart nicht mit beißendem Spott, setzt herab, emotionalisiert auf diese Weise und noch viel mehr.


Zu 3 =  Satire ist eine eigenständige Kunstform, auch wenn sie andere,

             sich formal definierende Kunstformen überformt.


Im Seminar wird die Kunstform Satire, mindestens aber der Begriff Satire, oft historisch hergeleitet. Zum Kern gehören Satyrspiele, die im antiken Griechenland die Stimmung der Zuschauer nach der Schwere mehrerer Tragödien auflockern sollten. Sie waren bunt, lärmend, zumeist burlesker Natur. Salopp und mit einem historischen Weitsprung gesagt, ist es also kein Wunder, dass die heutige Satire überwiegend in der Comedy und im Komischen anzutreffen ist. Dazu gehören Rundfunksendungen und Blogs ebenso wie traditionelle Satire-Zeitschriften, die im wahrsten Sinne des Wortes Bände sprechen. Nicht zu vergessen sind Karikaturen, wie sie in unserer Medienwelt von je her anzutreffen sind.


Somit führt die Satire als Gattung kein in sich ruhendes Eigenleben wie das Drama oder die Dichtkunst. Ebenso wenig findet man sie zwischen oder neben den Werken von Bildhauern oder Fotografen, denn sie ist Bestandteil all dieser Künste. Sie springt den Künsten und ihren jeweiligen Formen in den Nacken, überformt sie zu einem satirischen Roman, einem satirischen Gemälde, zu einem satirischen Kunstevent. Der Satiriker ist also an eine Kunstform gebunden, er ist als Satiriker eben auch Schriftsteller, Maler, Zeichner, Filmemacher, Bildhauer usw.


Oft wird von dem Satiriker gesprochen. Es gibt ihn, keine Frage, zumindest temporär. Seine bloße Existenz definiert die Satire jedoch nicht als literarische Gattung oder Kunstform, sonst wäre jede Abgrenzung zu anderen Kunstformen unsinnig. Jede noch so verschwurbelte Äußerung eines „zertifizierten“ Satirikers oder eines Autors in einer „zertifizierten“ Satirezeitschrift würde sonst zwangsläufig zur Satire. Letztlich steht es jedem Künstler im Kontext jeder Kunstform frei, sich als Satiriker zu betätigen. Ein Satiriker ist ein Satiriker, wenn er Satire schafft.


Zu 4 =  Satire ist zielgerichtet, nachvollziehbar und rational.


Eine Satire ist immer eine Auseinandersetzung des Satirikers mit seiner sozialen Umgebung, in der Regel mit einem Menschen, der grundsätzlich oder in bestimmter Hinsicht eine andere Haltung oder Meinung vertritt. Die Satire steht für einen Zustand, eine Entwicklung, eine Idee aus Gesellschaft, Politik, Wissenschaft oder Kunst. Insofern verfolgt die Satire stets ein Ziel: Die Sichtbarmachung oder Durchsetzung von Recht, Wahrheit, Gefahr. Auch wenn persönliche oder gruppenbezogene Überlegenheits- und Racheempfindungen im Spiel sein mögen, so folgt der Satiriker eben doch einem Plan, einerlei wie ausgeprägt und tiefgehend seine Überlegungen auch angelegt sein mögen.


Zu 5 =  Die indirekte Form, die vom Rezipienten eine spezielle Denkleistung verlangt.


Um sich als Satire konstituieren zu können, sind für einen Text bestimmte Eigenschaften erforderlich. Ganz allgemein können sie mit einem Um-die-Ecke- oder Um-die Kurve-Denken verglichen werden. Am eindeutigsten: indirekte Form. Sie macht eine Denkleistung des Rezipienten, also des Lesers, Sehers oder Hörers, erforderlich. Beispiel: Ansprechen und/oder Beschreibung einer Minderleistung, die kritisiert werden soll, aber in schillernder Weise als besondere, herausragende Mehrleistung inszeniert wird.


Als Stilmittel für die indirekte Form kommen Parodie, Ironie, Sarkasmus, vertikale und horizontale Übertreibung, Herausstellen oder Geringschätzen des Gegenteils, absurde Vergleiche, Spott, Klamauk, Verwischung und mehr in Frage. All dies kann einzeln in unterschiedlicher Dichte oder auch vermischt auftreten. Für sich genommen, in der einfachsten Form als bloße Zuschreibung von Eigenschaften, stehen die Stilmittel aber für sich da, gehören zum allgegenwärtigen Kommunikationsschatz des Austausches, machen also noch keine Satire aus.


In einer Satire wird man wohl am ehesten der Parodie/Ironie begegnen. Darüber hinaus könnte man sagen: allem, was Aufmerksamkeit hervorruft. Denn der Satiriker will ja nicht einfach nur einen höflichen Disput vom Zaum brechen, auch keine wissenschaftliche Abhandlung rüberbringen, wenn er gleichwohl wissenschaftliche Ergebnisse durchaus zu Rate ziehen könnte.


Ein einfaches Beispiel


Betrachtet werden soll ein öffentlich geäußerter Satz:


„Herr X hat das Gehirn einer Kaulquappe.“


Auf dem ersten Blick handelt es sich hier um eine klare Beleidigung. Satire? Was findet sich?


Eine Meinungsäußerung als Form der Kommunikation (siehe 1),


eine Haltung des Angriffs, weil die Aussage herabsetzend, beleidigend ist (siehe 2).


Die Aussage ist rational, erfolgt zielgerichtet (siehe 4).


Es handelt sich um eine indirekt dargebrachte Information, die eine spezielle Denkleistung des Rezipienten erfordert, denn der Leser muss die Botschaft: Herr X ist dumm, aus dem Vergleich eines menschlichen Gehirns mit dem einer Kaulquappe schließen. (siehe 5)


Es fehlt: die Kunst. (siehe 3) Festgestellt werden darf, dass ein geschriebener Satz der Literatur zugerechnet werden könnte. Klein, aber fein, mag man sagen. Doch kann eine so kurze, eher schmucklose und anspruchslose Aussage in den Olymp der Kunst gehoben werden? Ist Literatur immer gleichzeitig Kunst? Vielleicht könnte ja ein Kunstbegriff herangezogen werden, wie zum Beispiel „Kunst kommt von Können“ (quasi vom Handwerker zur Kunst) oder „Kunst als Ausdruck einer seelischen Manifestation des Künstlers im Werk“ (Verschlüsselung von Empfindungen im Werk, die von einem kunstsinnigen Publikum beim Betrachten, Sehen oder Hören des Werkes entschlüsselt werden.) oder „Jedermanns Wollen und Tun wird zu Kunst, sobald er erklärt, es sei Kunst“ (wodurch jeder Tuende sich zum Künstler erheben kann). Und dergleichen mehr.


Schwer wäre es, einen dieser Kunstbegriffe in einem Satz wie „Herr X hat das Gehirn einer Kaulquappe“ nachzuweisen. Schon allein, weil jedwedes Kunstverständnis eine bestimmte Tiefe, einen Reifegrad, einen hinreichenden Erklärungsumfang benötigt. Dies gilt auch für vordergründig einfache Kunstdefinitionen wie „Jedermanns Wollen und Tun wird zu Kunst, sobald er behauptet, es sei Kunst“. Auch in diesem Fall wäre eine Begründung erforderlich, mindestens eine gesellschaftspolitische, die ohne Argumente nicht auskommt. Also wäre die Frage, ob der Vergleich eines menschlichen Gehirns mit dem einer Kaulquappe bereits Kunst ist oder eine schnöde, beleidigende Idee, meines Erachtens rasch beantwortet: Der Satz „Herr X hat das Gehirn einer Kaulquappe“ ist in dieser einfachen Form ganz sicher keine Kunst. Bleibt festzustellen: Wo keine Kunst ist, kann keine überformt werden. Und wo keine Kunst satirisch überformt wird, kann man keine Satire antreffen.


C = Rüdiger Aboreas, 6 / 2021