Eine Rezeptgeschichte:
Stefan Grabowski
Es gibt zu viele Aperitifs auf dem Dulsberg
War die Freundin schuld? Oder ich selbst? Beide gemeinsam? Tatsache ist gewesen, dass eine Poularde liegen geblieben war. Im Kühlschrank. Eingeschweißt in Verkaufsfolie. Vielleicht hätte es genügt, die Flatterfrau herauszunehmen. Auf jeden Fall scheint sie anderntags gammelig geworden zu sein.
Ein Malheur, das so kam: Es war an einem geruhsamen Samstagnachmittag. Viele lange Abende hektisches Arbeiten lagen 68 hinter mir. Die Beine ruhten ausgestreckt unter dem Tisch. Alles war gut. Zur Krönung des Tages sollte es am Abend ein richtiges Essen geben, mit einer gefüllten, langsam geschmorten fetten Poularde, dazu Rotkohl und Knödel.
Endlich mal wieder entspannt allein für mich und die Freundin kochen, geruhsam schlemmen, ein Bier dazu, darauf hatte ich mich gefreut. Im Fernsehen lief ein spannender Film. Doch bevor es an den Herd ging,war mir nach einem wohligen Aperitif. Ich öffnete das Barfach – es war leer. Kühlschranktür auf – nichts drin! Verdammt! Dieser Zustand stand nicht auf der heimischen Dienstordnung. „Lass uns doch rasch auf ein Bier ins Gambrinus gehen“, schlug meine Freundin vor. Ein Blick auf die Uhr, es war noch Zeit.
Also raus aus der Wohnung, rein in die Kneipe. Hier, am Tresen, war es auch gemütlich, fast wie zu Hause. Im Augenblick vielleicht sogar noch einen Tick gemütlicher. Vor allem waren gute Freunde um uns herum. Also tranken wir nicht einen Aperitif, nein, es wurden zwei, drei und mehr. Bald kam eine Runde von rechts, darauf eine von links, dann gaben wir eine aus. So ging es los und so ging es weiter, den späten Nachmittag über, den Abend, bis in die Nacht hinein. Zwischendurch gab es Pferdewurst, eine Spezialität des Gambrinus’. Wir dachen an alles, aber nicht mehr an unsere Poularde.
Wie schon erwähnt: Am nächsten Tag, dem Sonntagnachmittag, als ich das Geflügel endlich von der Folie befreite, machte es einen nicht mehr ganz frischen Eindruck.Was tun? Uns knurrte mächtig der Magen. Also klingelte ich bei der Nachbarin und bat um eine milde Gabe. Das einzige, was in ihrer Kühltruhe lag, waren zwei steif gefrorene Hähnchenschenkel.
Dankend trug ich sie herüber in meine Küche. Da lagen sie nun, traurig und mickrig, jedenfalls im direkten Vergleich mit der Poularde. Nein, Rotkohl und Knödel wollten nicht so recht dazu passen. Reis war noch da, Gewürze, Crème fraîche, frischer Thymian. Eins, zwei, ein neues Abendessen wurde geboren. Es gab Hähnchenschenkel auf Reis, nach Art des Hauses. Meine Freundin war trotzdem guter Dinge. Denn es schmeckte ihr so gut, dass wir dieses Gericht auch heute noch kochen, immer mal wieder.Mit und ohne Aperitif.
...und noch eine Rezeptgeschichte:
Annegret Singh
Die Jüngste hat immer das Nachsehen
Mein viel zu früh verstorbener Vater hatte uns, seinen drei Kindern und meiner Mutter nicht mehr als eine alte Holzbaracke in Tötensen hinterlassen. Hier „hausten“ wir in den fünfziger Jahren ohne elektrisches Licht und fließendes Wasser. Mit anderenWorten: Wir waren arm.
Meine Mutter musste also sparsam kochen. Gegessen wurde im Schein einer Petroleumlampe an einem alten übergroßen Holztisch. Nicht selten gab es dabei Gerangel um die besten Stücke. Da hatte ich als die Jüngste in der Familie häufig das Nachsehen. So auch bei dem Essen, um das es hier geht: Linsen mit Rosinen. Ein Gericht, das noch heute als mein Leibgericht bezeichnet werden darf.
Es waren weder die Linsen noch die Rosinen, die für Streit sorgten, sondern die Knochen. Ja, richtig, die Knochen! Manchmal nahm meine Mutter auch Schweineschwänze, die nicht weniger lecker waren. Aber meistens hat sie die über Nacht eingeweichten Linsen auf Rinderknochen gekocht. Diese abzunagen, war unsere größte Freude. Ein Genuss für die ganze Familie. Leider blieben für mich, die jüngste der Geschwister, immer nur die kleinsten, dünnsten Knochen übrig. Ein Ärgernis, das sich wie ein roter Faden durch meine Kindheit zog.
Später, in meiner Sturm- und Drangphase waren die Linsen weit entfernt, irgendwie außerhalb des Lebens. Doch wie so oft im Leben der Menschen finden sich gewisse Vorlieben über die Jahre wieder ein. Ja, es schien, als hätte der „gute“ Geschmack einen Winterschlaf gehalten. Und eines Tages machte ich mich auf, um getrocknete Linsen und eine Tüte Rosinen zu kaufen. Anderntags stand ich am Herd und bereitete gut gelaunt mein Lieblingsgericht zu. Darf man von Glück reden, wenn der eigene Sohn das herrlichste, das Gericht der Götter verschmäht? Ich tat es und fischte mir zuallererst den dicksten Knochen heraus. Was für ein Genuss. Eine Freude, die allerdings nicht allzu lange währen sollte.
Mein Sohn wurde älter, verschmähte mit der von mir geerbten Sturheit die Linsen mitsamt den Rosinen. Doch eines Tages, es war gewittrig, vorherbstlich kühl, da dampfte im großen Topf mein Lieblingsgericht. Ich füllte mir auf, beugte mich über den Herd, um nach dem dicksten Knochen zu fischen. Da – ungetarnt und ungeniert – näherte sich von links eine Hand. Ich blickte verwundert auf. Mein Sohn! Und noch bevor ich begriff, hing der dickste Knochen an seiner Gabel.Wenn er auch die Linsen nicht möge, so sagte er, gelte dies keinesfalls für die Knochen. Da war sie wieder, die alte Zeit. Für einen Augenblick schien es, als wäre Tötensen auferstanden, die Enge, der große Tisch, der Streit um den dicksten Knochen. Na ja, ich war ja gewöhnt, hinten anzustehen – und wünschte meinem Patrick guten Appetit.
Mal ehrlich, wer würde mit seinem Sohn um einen albernen Knochen streiten?